Sie schreiben sozialkritische Bücher für junge Leser und sind dafür bekannt, aktuelle
und brisante politische und gesellschaftliche Themen aufzugreifen. Schaut man nicht
besser die Abendnachrichten, wenn man wissen will, was in der Welt passiert?
Klement: Etwa 8.000 Bootsflüchtlinge sind ertrunken. Dokumentationen und
Statistiken können die abgestumpften Menschen in Europa nicht mehr erreichen. In
meiner Geschichte „70 Meilen zum Paradies“ hat das Elend Afrikas Namen und
Gesichter. Aufrütteln und Betroffenheit erzeugen kann man nur mit konkreten
Schicksalen.
Aber über konkrete Menschen und konkrete Schicksale kann ich auch in einer gut
geschriebenen Reportage viel erfahren.
Klement: Gut geschriebene Reportagen über den Irak-Krieg findet man nach
wenigen Tagen im Papier-Container, während es Remarques „Im Westen nichts
Neues“ seit fast 100 Jahren gibt. Wir kennen hervorragende Anti-Kriegsromane und
immer neue Holocaust-Erzählungen, obwohl Zeitgeschichte in Bild und Ton
hinreichend dokumentiert ist und unzählige Sachbücher aufliegen. Es besteht also
Nachfrage. Ich kann nur ersuchen, „70 Meilen zum Paradies“ zu lesen und sich dann
ein Urteil zu bilden, was dieses Buch im Vergleich zu Journalismus und TVReportagen
kann, besser kann oder vielleicht nicht kann.
Gibt es literarische Vorbilder für Sie? Autoren, die Sie durch ihre Haltung und ihre Art
zu schreiben, beeinflusst haben?
Klement: Ich habe Egon Erwin Kischs Credo übernommen: „Nichts ist erregender als
die Wahrheit!“ Das Leben schreibt tatsächlich die packendsten Geschichten. Man
muss bloß neugierig bleiben und sich diesen Blick auf die Welt bewahren. Ion
Krakauer greift ebenfalls reale Geschehnisse auf, recherchiert viel. „In eisige Höhen“
ist toll, „In die Wildnis“ noch viel besser. Gabriel García Márquez schätze ich wegen
seines reportagehaften Literaturstils und seiner klaren, unprätentiösen
Mitteilungsprosa. Dass der Deutsche Service für Bibliotheken mich jüngst mit Gary
Paulson verglichen hat, ist das größtmögliche Kompliment.
In den 60er und 70er Jahren war die Literatur sehr stark politisch ausgerichtet.
„Engagement“ lautete damals das Stichwort. Ist das heutzutage passé?
Klement: Die Verlage setzen auf Fantasy, unsere Welt wird weitgehend
ausgeblendet. Sozialkritische Themen sind kaum mehr gefragt. Das war früher
anders. Besonders in den 70er Jahren lag der Pulverdampf von 1968 noch stark in
der Luft. Wenn Sie heute in eine Buchhandlung gehen, werden Sie kaum ein Dritte-
Welt-Jugendbuch finden. Das hat mit der Entsolidarisierung unserer Gesellschaft zu
tun. Ein Autor wie Günter Wallraff wäre heute nicht mehr möglich. Trotzdem horchen
die Schüler gespannt zu, wenn sie bei meinen Lesungen von brasilianischen
Straßenkindern oder Bootsflüchtlingen erfahren. Es ist für einige die totale Gegenwelt
zu ihren Video Games, zu Tokio Hotel und zu Starmania.
Wie vermeidet man den pädagogischen Zeigefinger, wenn man sozialkritische
Themen literarisch aufgreift? Also das „Man merkt die Absicht und ist verstimmt“.
Klement: Wenn es um die Schwachen, Unterdrückten und Entrechteten dieser Erde
geht, dann spricht der Autor für die, die nicht für sich selber sprechen können. Kritik
von wegen „pädagogischer Zeigefinger“ habe ich noch nie gehört. Ich mag eben
keine Bücher, in denen das leidende Selbst in den Mittelpunkt rückt und literarische
Nabelschau betrieben wird.
Wie kommen Sie auf Ihre Themen? Und was ist Fakt, was Fiktion in „70 Meilen zum
Paradies“?
Klement: Triebfeder ist die Neugierde. Die beiden Hauptpersonen Siad und Shara
gibt es wirklich. Ich habe mit zahlreichen afrikanischen Bootsflüchtlingen gesprochen
und an den Schauplätzen des Romans (Tunesien, Lampedusa, Neapel) recherchiert.
Das war mühsam und nicht ungefährlich. Aber wenn man über die Wirklichkeit
berichtet, muss man sich der Wirklichkeit aussetzen. Der Leser spürt, ob etwas bloß
erfunden oder wahr ist.
Schreibt man für junge Leser anders als für erwachsene?
Klement: Leo Tolstoi meinte: „Für Kinder muss man schreiben wie für Erwachsene –
nur besser!“ Meine authentische Geschichte des Attentats von Oberwart („7 Tage im
Februar“) wurde aufgrund von Presse- und Medienberichten von mehr Erwachsenen
als Jugendlichen gelesen. Die Schubladisierung von Kinder- und Jugendliteratur
halte ich ohnehin für problematisch.
Tolstoi ist natürlich ein schöner Schluss für unsere kleine E-Mail-Korrespondenz.
Trotzdem noch eine letzte Frage: Was lesen Sie denn zurzeit?
Klement: Hans Weigel meinte, man sollte alle wichtigen Bücher alle 20 Jahre wieder
lesen. Daher habe ich mir wieder einmal Truman Capotes „Kaltblütig“ vorgenommen
und ich muss sagen: Alles, was heute als trendige Krimi-Literatur inflationär die
Regale der Buchhändler und die Bestsellerlisten füllt, kann man getrost vergessen.
Kein anderer Roman bietet einen tieferen Einblick in die Psychologie des
Verbrechens. Seit 30 Jahren ist auch Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“
mein absolutes Lieblingsbuch. Bei den Jugendbüchern zähle ich Uwe Timm zu den
Genies in der Szene, weil er mit Humor zu erzählen versteht wie kein anderer.
Herzlichen Dank für unser Gespräch.