Die vergeblichen Briefe von Klinowo

Von Robert Klement, TOPIC 12/1998

Das Weihnachtsfest verlief in unserer Familie stets nach lieb gewonnenen Gewohnheiten. Der Vater sorgte für den prächtig aufgeputzten Christbaum, die Mutter für gutes Essen und mein Bruder und ich für den festlich-musikalischen Teil.
Während vor der Bescherung gemütlich geplaudert und aus Büchern vorgelesen wurde, trafen dann die Großeltern ein, um mit uns zu feiern.
Im Laufe des Abends wirkte mein Vater dann oft abwesend, zerstreut, schien sich aus der Behaglichkeit dieses Raumes zu entfernen. Wir alle wussten, dass er in diesen Momenten mit seinen Gedanken weit weg war. Dass ihn eine Erinnerung plagte, der er sich nicht entziehen konnte und die ihn an jedem Heiligen Abend unwiderstehlich einholte. Die Erinnerung an die vergeblichen Briefe von Klinowo.
Mein Vater war damals Soldat im Krieg – in jener Armee, die auf Befehl Hitlers die Sowjetunion überfallen hat. Im Dezember 1941 hatten Schnee und Kälte den Deutschen Vormarsch zum Stillstand gebracht. Die deutschen Einheiten waren von den sowjetischen Truppen zum Rückzug gezwungen worden.
Armselige vierzehn Mann, der Rest einer stolzen Kompanie, sahen in diesen Dezembertagen in einem kleinen russischen Dorf einem ungewissen Schicksal entgegen. Die Männer wussten, dass bald Weihnachten sein würde, doch keiner wagte, darüber zu reden: die ersten Weihnachten fern von zu Hause, inmitten von Tod und Verwüstung.
Langsam begann die Verbindung in das Hinterland wieder zu funktionieren. Drei Tage vor dem Fest kroch ein Lastwagen auf dem mühsam freigehaltenen Weg zu dem versprengten Trupp. Er brachte die Post, auf die die Männer nun schon fast einen Monat vergeblich gewartet hatten. Mit einem Schlag erwachten wieder alle Lebensgeister. Unter den schneebedeckten Planen des Fahrzeuges lagerten Dutzende Pakete. In großer Hast wurden sie Sendungen in den Raum getragen und stapelten sich bald an die Decke. Man beschloss ein richtiges Weihnachtsfest zu feiern.
Am Nachmittag des heiligen Abends waren die Männer im größten Raum versammelt und erwarteten voll Ungeduld den Hauptfeldwebel, der diesem verlorenen Haufen vorstand.
Es dunkelte bereits, als er endlich eintraf. Die Männer entzündeten Kerzen und sangen Weihnachtslieder, der Hauptfeldwebel hielt eine kurze Ansprache.
Wie gebannt ruhten die Blicke der Männer auf den Paketen einer Ecke des Raumes. Endlich war es so weit. Rasch war der Boden mit buntem Papier, Silberfäden, Flittergold und grünen Zweigen übersät. Hier war ein Gruß aus der Heimat, der sie mit ihren Liebsten verband.
Doch schon bei der Vorbereitung der Weihnachtsfeier war allen aufgefallen, dass dieser Gruß einige Kameraden nicht mehr erreichen konnte. Sie waren in den letzten Tagen und Wochen gefallen.
Die Pakete zurücksenden? Unmöglich, alle Feldpostsendungen waren in den letzten Wochen auf das Notwendigste beschränkt worden. Die Paketpost gefallener Angehöriger der Kompanie sei daher zu öffnen, entschied der Hauptfeldwebel. Der Inhalt sollte innerhalb der Einheit aufgeteilt werden.
Die Männer zögerten zunächst. Niemand wagte es die fremden Pakete anzurühren. Doch dann überlegten sie, was wohl ihre gefallenen Kameraden gesagt hätten. Nehmt euch nur alles, greift zu, hätten ihre Antworten wohl gelautet. Uns können diese Geschenke nicht mehr helfen.
Es war, als sträubten sich die Pakete gegen die fremden Hände. Die Verschnürungen gaben nur widerwillig nach.
Eine Welle von Liebe, unendlicher Sorgfalt und Innigkeit schien aus den geöffneten Schachteln zu steigen und bedrängte die rauen Eindringlinge. Selbst die kleinsten Geschenke waren mit silbernen und goldenen Fäden verschnürt und mit Tannenzweiglein geschmückt.
Nun warteten leere Munitionskisten auf den Tischen, um die unerwartete Bereicherung des Weihnachtsmahles zu sammeln.Eine für Selchwaren, die zweite für Backwaren, die dritte für sonstige Süßigkeiten. Schließlich erkannten die Männer, dass sie noch eine vierte Kiste benötigen: für die vielen Briefe, die den Paketen beilagen.
Scheue Blicke glitten über die Zeilen der Briefe. Hier waren ungelenke Grüße, hier Zeichnungen von Kinderhänden – und viele Fotos, die schweigend herumgereicht wurden. „Drei liebe Buben hat der Deiniger gehabt“, murmelte einer, oder: „Eine fesche Frau, die Braut vom Max.“ Die übrigen drei Munitionskisten waren nun fast bis an den Rand mit Köstlichkeiten angefüllt. In ihnen ruhte das Beste, das die Heimat damals noch zu bieten vermochte. Schwer erworben, mühsam aufgespart, hier lag es ausgebreitet und erzählte beredt von Mütterlichkeit, Frauenliebe, Schönheit und Güte.
Diese Geschenke waren eine furchtbare Anklage. Erstmals dämmerte den meisten etwas von der eigenen Mitverantwortung an dem grausigen Irrtum des Krieges.
Nun wurde der Inhalt der Munitionskisten unter den Männern aufgeteilt. Schließlich blickten alle ratlos auf die vierte Kiste mit den Briefen und Fotos. Diese seien sofort zu verbrennen, entschied der Hauptfeldwebel. Zwei Männer griffen in die Kiste und warfen die Briefe ins Feuer. Die Flammen leckten gierig nach dem Papier und warfen dunkle Schatten an die Wände.

Das Feuer wurde durch die Briefe hell angefacht

Es war, als ob die Schatten der Gefallenen heraufbeschworen wurden. Als feierten die Empfänger der Pakete in einer letzten Begegnung Wiedersehen und Abschied zugleich. Niemand schämte sich seiner Tränen, keiner dachte mehr ans Feiern. Niemand aß. Die Flaschen standen unberührt, und die Kerzen waren niedergebrannt. Die Männer gingen stumm, um ihre Quartiere aufzusuchen.
Es war kein Weihnachtshimmel, der auf sie herabsah, und kein Trost, kein milder Friede, wie er in Gedichten und Liedern gepriesen wurde. Die Sterne blickten fern und kalt auf sie herab.
Nur der Widerschein des Feuers, von den vergeblichen Briefen noch einmal hell angefacht, flackerte unruhig durch die kleinen Fenster der leeren Stube.

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Robert Klement