Ein Schloss in Schottland
Tim ist Fremdenführer in einem Schloss.
Nachts gehen unheimliche Dinge vor sich.

Von Robert Klement, TOPIC 09/2002

Das Prasseln des Regens und das regelmäßige Schlagen der Kirchturmuhr hielten Tim wach. Er erhob sich und starrte in die Finsternis, die lähmend über dem Schloss lag. Nach dem heftigen Gewitter fühlte er die Schwärze der Nacht mit doppelter Eindringlichkeit.
Doch Tim war nicht so leicht in Angst zu versetzen. Er war sogar immer von Dingen angezogen worden, die andere Menschen zum Fürchten fanden.
Er konnte seine Erkundungstour nicht länger aufschieben, denn er musste einem möglichen Konkurrenten zuvorkommen. Eine merkwürdige Kraft trieb ihn voran, ließ ihn nicht ruhen. Es war, als sei er Opfer eines Zaubers geworden. Das Secret Chamber, der Schatz des Grafen – sie umgab ein erregendes Geheimnis.
Durch Tims Körper verlief ein Ruck, und er griff entschlossen zur Taschenlampe. Ein Vers aus Shakespeares Schauerdrama „Macbeth“ ging ihm durch den Kopf: „Sei ohne Furcht Macbeth; kein Mensch, den eine Frau geboren, soll jemals Macht über dich haben.“
Ganz recht, kein Mensch konnte ihm Furcht einjagen, ihn beherrschen. Und die Monster waren auf Glamis längst ausgestorben.
Als er vorsichtig die Tür öffnete, fiel sein Blick auf den Baseballschläger, der neben dem Kasten lehnte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schnappte er den Holzschläger und verließ das Turmzimmer.
Der Lichtkegel seiner Taschenlampe bohrte sich in die Dunkelheit. Seine Schritte schienen doppelt so laut zu hallen wie sonst.
Plötzlich blieb er stehen., knipste die Taschenlampe aus, verharrte hinter einer Säule. Er spürte auf einmal, dass er nicht allein war, obwohl er nichts sah und hörte. Es war mehr eine Ahnung, ein Instinkt, der alles in ihm zur Abwehr erweckte.
Nachdem er eine doppelflügelige Tür hinter sich gelassen hatte, war er im Osttrakt angelangt. Der Gang im zweiten Stock war so lang, dass das Licht seiner Taschenlampe nicht bis an sein Ende drang. Sofort begann er mit dem Zählen der Türen. Mit klopfendem Herzen war er beim elften Zimmer angelangt. Zwischen diesen beiden Türmen musste sich das Secret Chamber befinden.
Tim leuchtete die Wände ab, untersuchte die kühlen Mauersteine nach einem Geheimmechanismus. Seinen zitternden Fingern entging nicht die kleinste Unebenheit, doch die Wand war absolut fugenlos. Dann suchte er den Boden Meter für Meter ab. Er war mit dunklen gerillten Steinplatten ausgelegt. Nichts.
Plötzlich hörte er Schritte! Sofort knipste er die Taschenlampe aus und griff nach dem Schläger an der Wand. Geduckt nahm er wahr, dass eine Gestalt am Ende des Ganges herumschlich, jetzt näher und näher kam. Direkt auf ihn zu.
Dann ging alles rasend schnell. Als er mit dem Schläger ausholen wollte, streifte ein heißer, keuchender Atem sein Gesicht. Der Angreifer rammte den Kopf gegen seine Brust, Tim spürte ein zotteliges Fell an seinem Körper.

Dann legten sich zwei scharfe Klauen um seinen Hals und drückten erbarmungslos zu.
Tim wehrte sich verzweifelt, versuchte vergeblich, die Hände von seinem Hals zu lösen. Er spürte, wie sich der Druck der Krallen verstärkte, merkte, wie ihm die Luft knapp wurde. Mit letzter Kraft trat er gegen das Schienbein des Angreifers.
Ein wilder Schmerzenslaut hallte durch den Gang und kam als verzerrtes Echo zurück. Augenblicklich ließ der Druck an seinem Hals nach.
Er konnte die Arme mit dem Baseballschläger wieder frei bewegen, holte weit aus, legte seine ganze Kraft in den Schlag und traf das Ungeheuer knapp unter der Schulter am Arm. Es gab ein dumpfes Geräusch.
Der Angreifer, von dieser Attacke überrascht, taumelte einige Schritte zurück, ein erstickter Laut kam aus seinem Mund, und er ergriff die Flucht.
Dann war es wieder still. Tim hörte nur seinen keuchenden Atem. Minutenlang hielt er schwer atmend inne, zu keiner Bewegung fähig. Noch immer zweifelte er, ob dieser Zweikampf wirklich stattgefunden hatte oder bloß irre Einbildung war. Ein Griff an seinen schmerzenden Hals gab ihm die Antwort: Archibald hatte ihn angegriffen, ihn töten wollen. Doch die Schmerzenslaute stammten von keinem Monster: Jemand hatte ihm aufgelauert, sich mit dem Kostüm des Haarmonsters getarnt.
Unmöglich, dass ihm jemand bloß einen Schrecken einjagen hatte wollen. Es war ein Kampf auf Leben und Tod gewesen!
Allmählich erwachte Tim aus seiner Erstarrung.Er tastete den Boden nach der Taschenlampe ab, griff zum Schläger und wankte davon. An einer Wegkrümmung in der Nähe des geschwungenen Korridors stieß er mit dem Fuß plötzlich gegen etwas Weiches, Nachgiebiges. Tim schrie auf und sank in die Knie. Vor ihm lag eine zusammengekrümmte Gestalt. Beim Zusammenstoß mit dem Unbekannten war ihm die Taschenlampe aus der Hand gefallen, sie rollte über den Steinboden, blieb an der Mauerkante liegen und leuchtete weiter.
Er konnte in der Finsternis nichts erkennen, glaubte aber, ein leichtes Röcheln zu hören. Tims Herz raste. Die Herzschläge dröhnten im Kopf, in den Ohren, überall fühlte er dieses Hämmern, bis in die Arme und Beine.
Zitternd und mit starren Augen blickte er auf die Gestalt am Boden. Nur weg von hier! Weiter!, schrie eine Stimme in ihm.
Tim sprang auf und lief, so schnell er konnte.

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Robert Klement